Begegnungen der besonderen Art
Duvenstedter Brook, 15. Februar 2019
Himmelmoor, 24. Februar 2019
Es ist Mitte Februar, in wenigen Tagen wird Vollmond sein. Ich möchte diese hellen Abende für Beobachtungen im Duvenstedter Brook nutzen. Dieses große, weitläufige und vielgestaltige Schutzgebiet im Nordosten Hamburgs suche ich, seit ich in Hamburg lebe, regelmäßig auf. Hier brüten Kraniche, Graugänse, ein Uhupaar belegt seit einigen Jahren als Brutplatz eine Eiche genau am Hauptweg, wo an schönen Sonntagen hunderte Menschen direkt daran vorbeigehen. Der Seeadler ist dort inzwischen ebenfalls als Brutvogel nachgewiesen. Hier gibt es, wenn auch ehemals ausgesetzt, Rot- und Damhirsche, Wildschweine hinterlassen fast überall ihre Spuren und kleinere Säuger wie Fuchs und Feldhase, Baummarder und Dachs sind ebenfalls präsent. Hinzu kommen Kreuzotter und Ringelnatter, die Waldeidechse, im zeitigen Frühjahr machen sich Moor- und Grasfrösche und Erdkröten lautstark bemerkbar. Später stellen Laub- und Grünfrösche die Orchester an den Gewässern.
An den Duvenstedter Brook angrenzend, befinden sich der sehr naturbelassene Wohldorfer Wald, der von der Ammersbek durchflossen ist und im Westen die Niederung der Oberalster. Nachdem ich also das gesamte Gebiet seit gut 26 Jahren sehr gut kenne, erkunde ich inzwischen einen kleinen Streifen im Wohldorfer Wald und eine agrarisch genutzte Fläche nahe der Oberalster zur Brutvogelkartierung für den Hamburger Ornithologischen Arbeitskreis. An diesem Wochenende vor Vollmond möchte ich nun drei Tage am Stück im Gebiet verbringen. Am Abend des 15. Februar warte ich im zentralen Duvenstedter Brook auf die Rothirsche. Es ist ein sonniger und für die Jahreszeit ungewöhnlich warmer Tag. Nachmittags steigt das Thermometer auf 12° C. In der Nacht wird es allerdings kalt werden und Frost geben. Um 17°° beginnt es zu dämmern. Die Kraniche, es rasten im Augenblick rund 150 Vögel im Gebiet, fallen lautstark in ihre Schlafgebiete ein. Rund 300 Meter von mir entfernt rufen zwei erwachsene Seeadler lautstark im Duett. Das warme Wetter bringt sie in Balzstimmung. Neben den Kranichen fliegen auch Singschwäne zu ihren Schlafplätzen. Ich liebe sie, diese anmutigen Vögel mit dem reinen weißen Gefieder und den wehmütigen Rufen. Das übrige Vogelkonzert ist noch etwas verhalten, doch die Misteldrossel flötet schon ihre Strophen und das zarte Rotkehlchen gibt seine Melodie zum Besten.
Mit der Dämmerung erscheinen die Rothirsche auf der Bildfläche. Mehr als 40 Tiere sind es, Kühe, Schmaltiere und Kälber. Noch ist es hell genug um die Herde (in der Jägersprache Rudel) gut erkennen zu können. Fortwährend äugen sie, äsen immer nur kurz, um gleich wieder den Kopf aufzurichten und sich umzuschauen. Woher kommt die Unruhe? Einige hundert Meter oberhalb des Einstands befindet sich das Wohnhaus nebst Garten des Försters. Kommt von dort eine Störung? Das wäre möglich, allerdings werden die Hirsche mit der Anwesenheit des Försters und seiner Familie vertraut sein. Oder irritieren sie Geräusche oder optische Störungen, die von den Wanderwegen, die das Gebiet durchziehen, herkommen? Hektische Bewegungen von Spaziergängern, plötzlich aufflackerndes Licht von Fahrradlampen, andere menschliche Aktivitäten? Das kann sein, ist auch am wahrscheinlichsten. Aber dennoch! Indem ich die unruhigen Hirsche beobachte, hoffe ich, dass gleich ein Wolf beim Äsungsplatz erscheint. Soweit ich weiß, gibt es bisher noch keine Beobachtungen von Isegrim aus dem Duvenstedter Brook. Allerdings wechseln seit gut zehn Jahren regelmäßig Wölfe von Mecklenburg kommend im Lauenburgischen über die Elbe, durchqueren den Sachenwald, durchstreifen den Kreis Stormarn. Einzelne Tiere wanderten bis Dänemark, fanden auch dort zu Paaren und Rudeln zusammen und inzwischen kommen häufig Jungwölfe von dorther wieder nach Schleswig-Holstein. Im Augenblick sorgt ein aus Dänemark stammender Jungwolf (der allerdings ausgewachsen ist) im Kreis Pinneberg für erhebliche Unruhe, da er regelmäßig Schafe reißt. Um weiteren Rissen Einhalt zu gebieten und auch die „Volksseele“ nicht noch mehr zum Kochen zu bringen, darf er nach Ministererlass inzwischen abgeschossen werden. Vier Wochen nach der Abschussfreigabe konnte der Wolf aber immer noch nicht erlegt werden, was die Unruhe neuerlich anheizt. Das ist ein guter Hinweis darauf, dass die zuverlässigsten Maßnahmen gegen Wolfsattacken auf Weidetiere eben doch gute Schutzzäune und ausgebildete Herdenschutzhunde sind. Zurück zum Duvenstedter Brook: Die Hirsche bleiben unruhig, ihre Unsicherheit ist zu greifen. Es dauert nicht lange, bis sie sich zurückziehen und aus meinem Blickfeld verschwinden.
Vom Moor rufen Kraniche und Singschwäne, überfliegende Bläss- und Graugänse machen sich lautstark bemerkbar. Ich hoffe auf den Balzflug der Waldschnepfe. Wenngleich das Gelände im Mondschein gut ausgeleuchtet ist, wird auf größerer Entfernung die Sicht zusehends schlechter. Mehrere Damhirsche erscheinen zur Äsung, sie sind nur noch schemenhaft zu erkennen. Eine gute dreiviertel Stunde nachdem sie verschwanden, kommen auch die Rothirsche wieder. Von ihrer vorherigen Unruhe ist nun nichts mehr zu spüren. Mein Warten auf den Wolf bleibt vergeblich. Wie schade!
Die Wahrscheinlichkeit, ihn zu sehen, ist grundsätzlich sehr gering. Auch in Gebieten, wo sich Wolfsrudel aufhalten, sind die Sichtungen sehr selten, wenngleich manche Medienberichte das Gegenteil suggerieren mögen. Doch dass der Wolf noch nie im Duvenstedter Brook gewesen sein soll, glaube ich nicht. Alle Wölfe, die von Süden und Osten kommend nach Schleswig-Holstein und Dänemark wanderten, müssen den ca. 40 km breiten Korridor zwischen Lübeck und Hamburg passieren. Im letzten Jahr wurde am helllichten Tage ein Wolf gefilmt, der über den Lütjensee trabte. Der liegt kaum 20 km vom Duvenstedter Brook entfernt. Erst diese Woche hörte ich von einer plausiblen Wolfssichtung nicht weit davon entfernt. Das heißt, ich darf weiterhin auf einen Wolf im Duvenstedter Brook hoffen.
Schon eine Woche später bin ich, bei wieder beeindruckendem Vorfrühlingswetter, im Quickborner Himmelmoor unterwegs. Auch dieses Gebiet kenne ich seit meinen frühen Hamburger Jahren, besonders deshalb, weil Freunde von mir ganz in der Nähe wohnten. Im Himmelmoor wurde und wird Torf abgebaut, die jüngste Abbaugenehmigung gilt bis zum Jahr 2021. Dann ist allerdings Schluss mit dem Abbau und der Betreiber des nahen Torfwerks wurde vom Naturschutzreferat des Landkreises Pinneberg verpflichtet, die abgetorften Flächen zu renaturieren. Moorrenaturierung ist eine sehr aufwändige Sache und Erfolge zeigen sich nur langsam. Die für die Abtorfung ehemals trocken gelegten Flächen müssen wieder dauerhaft vernässen, also nahezu im Wasser stehen. Als Folge erhält der Boden nur noch ganz wenig Sauerstoff, er wird sauer und in diesem Milieu setzen sich die Torfmoose durch. Sie geben zusätzlich Säure in den Boden ab, wachsen in die Breite und in die Höhe und die abgestorbenen Pflanzenteile verrotten im sauerstoffarmen Boden nur unvollständig. Aus ihnen wird der gefragte Torf. Die vom Torfmoos geprägten Regen- oder Hochmoore sind artenarme Lebensräume. Die wenigen Arten die hier existieren, können sich allerdings anderswo kaum behaupten, da bei günstigeren Bodenverhältnissen andere Organismen konkurrenzstärker sind. Eine Besonderheit des Hochmoors und einiger seiner Randbereiche sind die Sonnentauarten. Weil es dem Moorboden an Stickstoff (die Grundlage für die Eiweißsynthese) mangelt, fangen diese Pflanzen mit ihren drüsenreichen und klebrigen Fanghärchen, welche dicht beieinander die Blätter bevölkern, Insekten. Von der Pflanze abgegebene Enzyme zersetzen den Insektenkörper und ermöglichen die Aufnahme der freigewordenen Nährstoffe. Vom Insekt bleibt nur die Chitinhülle übrig. Andere Moorbesonderheiten sind das Schmalblättrige Wollgras, der Gagelstrauch, der Sumpf-Porst und Heidekrautgewächse wie Rosmarinheide, Moos, Krähen- und Rauschbeere. Wo deren Verwandte, die Glockenheide sich ausbreitet, wird der Boden trockener und nährstoffreicher und es bieten sich Nischen für das Pfeifengras. Pioniergehölze wie Moorbirke und Moorkiefer oder der Faulbaum beginnen sich durchzusetzen.
Dass das Himmelmoor renaturiert wird, freut mich. Inzwischen wurde auch die Bevölkerung der näheren und weiteren Umgebung auf die Schönheit des Gebiets aufmerksam. Wo früher nur vereinzelt Spaziergänger unterwegs waren, gibt es nun, besonders an schönen Sonntagen wie heute, richtige Massenaufläufe. Es ist schön, dass so viele Menschen Freude an der Natur empfinden, aber mir ist das doch etwas zu viel Betrieb. So bewege ich mich von den Hauptwegen weg und suche eine verschwiegenere Route. Über eine ziemlich nasse ehemalige Viehweide gelange ich in ein Bruchwäldchen, das von Birken dominiert ist. Es ist dort ein schmaler Pfad gebahnt, an seinem Rand wurden Birken geschlagen. Vermutlich geschah das, um die Wiedervernässung schneller voran zu bringen. Der Pfad, auf dem ich mich befinde, ist an den meisten Stellen kaum bewachsen, zumeist liegt der schwarze, trockengefallene Moorboden frei. Überall sehe ich die Hufspuren von Rehen und Wildschweinen. Dazwischen ein Pfotenabdruck! Ich bin elektrisiert! Der Abdruck kann von einem Hund stammen. Falls das der Fall ist, war das Tier unbeaufsichtigt unterwegs, denn eine menschliche Fußspur finde ich nicht. Kommt hier ein Hund her? Das ist selbstverständlich möglich, allerdings befinde ich mich auf einer Fläche, die ziemlich abseits von den üblichen Wegen liegt. Ein Wolf?! Wie groß ist der Pfotenabdruck? Mit dem Schlüsselanhänger versuche ich, das herauszufinden. Ich komme auf eine Länge von 9 – 10 cm und eine Breite von 6 – 7 cm. Die Literatur gibt für eine Wolfspfote 10 – 12 cm Länge und 7 – 10 cm Breite an. „Meine“ Pfote befindet sich somit im unteren Größenbereich. Aber sie bleibt noch innerhalb der möglichen Spannweite und es könnte sich um ein schwächeres Tier handeln. Ein wichtiges Merkmal ist der Verlauf der Spur. Wölfe bewegen sich zumeist im gleichmäßigen Trab, die Schrittlänge (der Abstand von der vorderen Hinterpfote zur hinteren Vorderpfote) beträgt mehr als einen Meter. Leider ist der Boden nicht so beschaffen, dass ich Pfotenabdruck auf Pfotenabdruck erkennen kann. Es gibt Stellen, da ist er zu trocken für eine gute Spur, anderswo verwischt die Feuchte die Konturen oder der doch zwischendurch vorhandene Bodenbewuchs, macht die Spur unsichtbar. Dennoch finde ich auf einer Länge von gut 300 Metern in größeren Abständen immer wieder einzelne Abdrücke, von der Hinter- wie der Vorderpfote. Weiter komme ich nicht, da der Pfad in ein dichtes Birkengehölz übergeht. Was für meine Betrachtungen sehr wichtig ist, kann ich aber trotz des unvollständigen Spurbilds erkennen. Die Spur verläuft über die gesamte verfolgte Strecke in einer gleichmäßigen und geraden Linie. Das gilt als Charakteristikum der Wolfsfährte, denn Hunde, die grundsätzlich verspielter als Wölfe unterwegs sind, halten solch eine gleichmäßige Linie nicht über eine längere Entfernung durch. Nach den strengen Regeln des Wolfsmonitoring wird eine Fährte bei passender Pfotengröße und Schrittlänge, die 300 Meter in einer gleichmäßigen geraden Linie verläuft, als Wolfsnachweis anerkannt. An einer Stelle sind zwei Vorderpfoten nebeneinander abgedrückt, das Tier stand in diesem Moment quer auf dem Pfad. Längsseits des Pfads verlaufen auf beiden Seiten ehemalige Torfstiche, die wassergefüllt sind. Die Verwerfungen an ihren Rändern weisen darauf hin, dass sie ständig von Rehen, Wildschweinen und sicherlich auch anderen Tieren durchquert werden. Hat das Tier mit Pfoten, ob Wolf oder Hund, vor einem dieser Wildwechsel nach Beutetieren gespäht oder gewittert? War es unentschlossen, ob es einem der Wechsel folgen soll? Ich bleibe in meiner Bewertung zurückhaltend. Für einen Wolf sprechen die Geradlinigkeit der Spurbahn und die Abgelegenheit des Gebiets. Die Größe der einzelnen Pfote würde für einen Hund sprechen und selbstverständlich können streunende Hunde sich hier ebenfalls aufhalten. Aber warum sollte der Wolf, der sich nachweislich schon längere Zeit in diesem Teil des Landkreises Pinneberg aufhält, nicht gerade die versteckten Bereiche des Himmelsmoors als Ruheplatz oder zur Jagd aufsuchen?
Sei es im Duvenstedter Brook, sei es im Himmelmoor. Ob bei den geschilderten Beobachtungen tatsächlich ein Wolf im Spiel war, werde ich nicht erfahren. Der US-amerikanische Wildbiologe Aldo Leopold soll gesagt oder geschrieben haben: „Schon ein einzelner Bär in der Landschaft, gibt ihr einen ganz anderen Geruch“. Wenngleich ich für meine Schilderung den Bären durch einen Wolf ersetzen musste, glaube ich zu verstehen, was er damit meinte. Alleine die Möglichkeit, dass der Wolf hier war, ist ein prickelndes Gefühl und gibt meinen Erlebnissen in der Natur eine ganz besondere Note.